Kunterbunt

Neutralität, oder: Augenzeugen gibt es keine, aber alle wissen Bescheid

In den letzten Wochen sind die Schlagzeilen voll mit Rammstein und Till Lindemann, die #MeToo Debatte wird wieder präsenter. Gleichzeitig beobachte ich aber (wieder einmal) wie ekelhaft misogyn diese Gesellschaft ist. Wie heuchlerisch mit all dem umgegangen wird und wie wenig Menschen neutral bleiben können. Ja, neutral. Denn offensichtlich gibt es nur zwei Seiten: Diejenigen die fast schon Mantra-artig ihr Idol vehement verteidigen und diejenigen die ihn und/oder die Band verteufeln. Dazwischen tummeln sich – einige wenige – neutrale.

Rammstein – Schweigender Zusammenhalt

Eine Frau erhebt eine Anschuldigung und sagt dabei explizit „Es ist auf der After Show Party von Rammstein etwas passiert, ich kann niemanden benennen“. Und so nahm das Unheil seinen Lauf. Denn was passiert fast schon reflexartig wenn eine Frau so etwas ausspricht? Ja, genau: Die will nur Fame, die will nur Geld, die will nur Aufmerksamkeit und so vieles mehr. Weil das ja so und so nicht passiert sein kann, denn die Band ist ja so und so. Plötzlich waren alle dabei, wissen alle Bescheid und sowieso kann das überhaupt nicht sein. Und dann passiert etwas bemerkenswertes: Die selbsternannten Detektive gehen auf die Suche, alle Profile der Frau werden fleissig analysiert, durchforstet, Screenshots werden erstellt und es werden so viele Informationen wie möglich gesammelt. Die werden sodann betrachtet und in den passenden Rahmen gerückt. Wen interessiert schon was sie tatsächlich gesagt hat? Weil die hat ja damals vor so und so vielen Jahren mit der und der Band dasselbe schonmal versucht, kann man ja mal behaupten – macht sie ja schließlich gegen Rammstein auch. Die Masse ist in Bewegung, es herrscht aufgeheizte Stimmung und in den Kommentarspalten findet intensiver Austausch statt – über die Frau, über ihre Motive und zack: Abgestempelt.

Ein Mann sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt und äußert sich nicht. Ein mageres Statement der Band bittet um Neutralität, man wolle die Vorwürfe intern aufklären. Keine 24 Stunden später hat der Mann einen mehr als bekannten Anwalt mit der Verteidigung seiner Rechte beauftragt. Es folgt eine wahre Welle von Unterlassungsaufforderungen, Klageandrohungen gegen die Frauen die Vorwürfe erhoben haben, gegen die Medien die berichten. Ein paar Sätze auf einem der vielen Konzerte vor ausverkauftem Haus werden dankbar von der Masse als Message aufgenommen. Die Bücher des Mannes ausverkauft, Alben die vor Jahren in den Charts waren feiern ein Comeback, Rammsteins Konzerte ausverkauft. Alles wie immer, das Business läuft. Während die Fans aufgeheizt die Frauen beschimpfen, bedrohen und unverhohlen an den Pranger stellen, schweigt die Band, schweigt der Mann.

Rechtsstaat – aber nur einseitig

Ermittlungen werden aufgenommen, das Ergebnis – so sind sich viele einig – ist ja klar: Der war das nicht, die lügt. Warum brauchen wir eigentlich Ermittler wenn die breite Masse das fast schon prophetisch selbst erledigt? Ach ja richtig, da war ja was mit Rechtsstaat, den jetzt alle wieder kennen. Natürlich nur um den armen Mann zu verteidigen, der weiß ja nicht wie ihm geschieht. Aber eigentlich können wir uns die Verhandlung auch sparen, wir alle wissen doch was passiert ist: Nichts. Vielleicht hat er sie auch abgewiesen, vielleicht hat sie sich auch einfach angeboten. Guckt doch mal wie die sich anzieht. Schaut doch, sie ist doch auf die After Show Party von Rammstein gegangen! Und überhaupt: Die Statistik sagt doch was von Falschbeschuldigungen, weiß auch Kachelmann. Der will ja nicht einmal als Vergleich bemüht werden, wen wundert es?! Aus Protest zeigen die Fans ihre Fan-Liebe bei Konzerten, beim Streamen und auf den SocialMedia Kanälen, nicht müde immer und immer wieder von Unschuldsvermutung zu sprechen. Die Frau macht sein Leben kaputt, zerstört seine Existenz! Hör mal, da musst du doch Flagge zeigen!

Zweierlei Maß

Wenn wir also von Unschuldsvermutung reden, dann müsste die doch für beide gelten, oder nicht? Sowohl für ihn, als auch für sie. Wenn wir doch von Unschuldsvermutung reden, wie können wir dann sagen „Sie hätte wissen müssen was einer After Show Party passiert!“? Denn das ist doch ein Widerspruch in sich, oder nicht? Wenn wir doch nicht müde werden die Rechtsstaatlichkeit zu betonen, dann müssten doch beide zunächst gehört werden, oder nicht?

Wieso kann diese Gesellschaft nicht neutral bleiben? Warum scheint es nur ein Für oder ein Gegen zu geben? Warum wird sofort angezweifelt dass die Frau die Wahrheit sagt? Warum wird ihm eine Täterschaft abgesprochen? Es ist zweierlei Maß. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Es wäre wohl tatsächlich zu einfach wenn der Mann, der Texte über Missbrauch schreibt, auch tatsächlich missbrauchen würde. Es wäre wohl tatsächlich zu einfach der Frau nicht mit Hass und Ablehnung zu begegnen, sondern mit Unterstützung – gleich welcher Art. Stattdessen werden alle, die der Frau Glauben schenken sofort in eine männerhassende, mobbende Ecke gestellt. Für Argumente keine Zeit, für Einsicht erst recht nicht. Augenzeugen gab es keine, aber es waren alle dabei!

Erlernter Täterschutz

Diese Maschinerie ist Täterschutz. Das Leben des Mannes läuft weiter, seine Existenz geht einfach weiter. Die Millionen bleiben, so oder so. Und dieser vermeintliche Makel einer Beschuldigung bringt ihm und dem Wirtschaftsunternehmen Rammstein noch mehr Umsatz. Unbeeindruckt wachsen die Zahlen der Streams, wird Merchandise gekauft. Was ist denn wenn es wahr wäre? Werden dann all diese Symbole des Supports theatralisch verbrannt? Oder wird dann bei betretenem Schweigen der nächste Rammstein Song geskippt?

Das Leben der Frauen ist vorbei. Ihre Existenzen sind weggefegt, von einem riesigen Tsunami der nicht glauben wollte. Von Menschen die den Rechtsstaat zwar vertrauen wenn es darum geht die Unschuld des Mannes zu beweisen, nicht aber wenn es darum die Unschuld der Frau zu beweisen. Von Menschen die eine Seite gewählt haben weil sie lieber Unterstellungen glauben als sich selbst mal ein Bild zu machen. Und wen juckt denn bitte eine missbrauchte Frau die traumatisiert den Rest ihres Lebens irgendwie meistern muss, wenn der Mann doch immer „so nett“ war? Genau. Keinen. Was ist denn wenn es gelogen wäre? Dann machen Band und Mann noch mehr Umsatz und die Frauen können sich schonmal eine dunkle Höhle suchen.

Wenn ich sage „Ich glaube lieber einem potentiellen Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt statt einem potentiellen Täter“ wird mir vorgeworfen den Mann zu verurteilen. Wie? Indem ich der Frau Glauben schenke. Das ist alles. Mehr bedarf es nicht. Einfach nur Hilfe anbieten für Menschen die Opfer von Missbrauch geworden sind, Unterstützung nach einer traumatischen Erfahrung. Damit gibt man dem Menschen Support. Mehr nicht. Ich würde mir wünschen, dass all jene die flammend ihre Idole verteidigen nur einen Funken dieser Energie in Hilfe für Opfer von Missbrauch und sexualisierter Gewalt stecken würden. Dann wäre vielen Menschen geholfen, dann hätten wir nicht so viele kaputte Menschen deren Leben in Scherben liegt während die Täter ihre Leben einfach weiterleben.

Das wirklich erschreckende an der Sache ist: Wer einmal Täter geworden ist, der wird es immer wieder. Wer einmal Opfer war, der versucht an und mit sich zu arbeiten um es nie wieder zu sein.

 

Über die Autorin

Die Stehauffrau bloggt über das Leben nach toxischen Beziehungen, die schönen Dinge des Lebens und den Weg dorthin. Stehauffrau steht für eine Frau die den Weg vom Opfer zur selbstbestimmten Frau gegangen ist.

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